Das Kind, das ich nie war
Dein Wiehern ist älter als das Wort, das ich spreche. Deine Lippen sind weicher als meine Brustwarzen. So braun, so traurig, so hilflos dein Blick unter langen Wimpern. Du bist das Kind, das ich nie sein durfte. Und das ich vielleicht doch war. Du schaust zu deiner Mutter hoch, und sie gibt dir einen sanften Stupser mit der Nase. Du musst lernen, nach vorne zu schauen, nicht zu ihr. Du musst lernen, auf deinen wackligen Storchenbeinen zu laufen, zu fliehen, dich vom Wind finden zu lassen, und nicht zurückzublicken.
Doch du blickst sie störrisch weiter an, du nimmst all deine Kraft zusammen, um dich ein letztes Mal zu wehren. In deinen großen, furchtsamen Augen liegt eine flehende Bitte. In ihnen ist all das gespiegelt, was wir oft verdrängen. All die Schatten, all die Wahrheiten, all die Einsamkeit, all der Schmerz des Daseins. Du wolltest nie erwachsen sein. Ich wollte nie erwachsen sein. Wir alle wollten Kind bleiben. Ungeborenes Kind. Noch eins mit der Mutter. In ihrer Liebe baden. Wer will schon sterben müssen?
Du fühlst: Der Blick nach vorne ist der erste Schritt Richtung Tod. Alles in dir wehrt sich dagegen. Doch du weißt: Es gibt kein Zurück. Du wieherst noch einmal ganz leise. Und dann drehst du langsam deinen Kopf um - und schaust mir in die Augen. Du warst das Kind, das ich nie sein durfte. Und das ich vielleicht doch war.